NewBusiness Gastbeitrag zum Thema Physikalisierung, 29.08.2016

Was passiert nach der Digitalisierung? Die Physikalisierung, Beyond Digital, Post Digital, das Internet der Dinge, Shenzhai, das Ende des mooreschen Gesetzes und die Maker Kultur.

Das Zeitalter der Physikalisierung

von Sebastian Brunner

Das Internet of Things lässt die Grenzen des Bildschirms hinter sich und begibt sich in die physische Realität. Das menschliche Erlebnis im physischen Raum wird zukünftig der Ausgangspunkt für Innovationen sein.

Die Digitalisierung dominiert derzeit das Denken und Handeln der Konzernbosse. Sie wird möglicherweise bald von einem neuen Paradigma abgelöst, das als Physikalisierung der digitalen Realität beschreiben werden kann. Das „Internet of Things“ (IoT) lässt die Grenzen des Bildschirms hinter sich und begibt sich in die physische Realität. Damit wird in Zukunft das menschliche Erlebnis im physischen Raum zum Ausgangspunkt für Innovationen.

Während das IoT einen Zustand beschreibt, bezeichnen die Physikalisierung und die Digitalisierung den Prozess hin zu diesem Zustand. Das Konzept der Physikalisierung steht der Denkweise der Digitalisierung diametral gegenüber. Während die Akteure der Digitalisierung als “Physical Natives” und “Digital Immigrants” noch den Schritt in ein virtuelles Zeitalter machen müssen, haben die Akteure der Physikalisierung als “Digtial Natives” und “Physical Immmigrants” die physische Wirtschaft noch gar nicht erlebt und müssen sich ihre Prinzipien erst aneignen. Beide Prozesse haben gemeinsam, dass sie herausfordernd, schmerzhaft und riskant sind.

Der MIT-Professor Nicolas Negroponte hat in seinem berühmten Wired Magazine Artikel “Beyond Digital” vorweg genommen, dass die digitale Technologie bald als eine banale, selbstverständliche Grundvoraussetzung des Lebens wahrgenommen wird. Sie wird eher auffallen, wenn sie mal ausfällt. Computer werden a) langweilig sein und b) in Dingen verschwinden, die eigentlich etwas anderes sind: Intelligente Textilien, autonome Fahrzeuge, smarte Türgriffe. Die eigentliche Veränderung wird nicht in der digitalen Infrastruktur und Wirtschaft liegen, sondern in einer komplett neuen Lebensweise. Der Begriff des digitalen Zeitalters wird einmal so ignorant in Bezug auf seine Implikationen klingen wie jener des “pferdelosen Wagens”.

Der Werbe-Stratege Russel Davies führte dafür den Begriff “Post Digital” ein. Er ging davon aus, dass es in Zukunft “Bildschirme” sein werden, die langweilig sind. Dinge jedoch, die in der realen Welt stattfinden und Spaß machen, werden in Zukunft als Werbe-Formate genutzt. Der Begriff „Post Digital“ provozierte häufig Kopfschütteln oder Spott. Schließlich sei man doch gerade erst am Anfang der Digitalisierung. Doch Davies sollte Recht behalten. Im Jahr 2012 wurde “Post Digital” zum Motto der Next Konferenz.

Davies beobachtete, dass immer mehr Mitglieder der Tech Szene mit physischen Gegenständen experimentierten, statt mit Bildschirmen. Was da entstand war sehr verspielt, improvisiert und ähnliche hässlich wie die ersten Websites, die von den Nerds der vorhergehenden Generation erstellt wurden. Beispielsweise ein Roboter, der Luftblasen erzeugt, wenn sein Name auf Twitter auftaucht. Diese Angehörigen der Maker Subkultur haben sich zum Ziel gesetzt, Probleme mit Hilfe einfacher und fast kostenfreier technischer Mittel zu lösen. Sie nutzen beispielweise 3D Drucker und Open-Source-Hard-Ware um Solaranlagen oder einfach nur spielerische Gadgets herzustellen. Von der Maker Bewegung wird erwartet, dass sie einen ähnlichen Innovationsschub hervorbringt wie das Internet in den 1990er Jahren.

Im Zeitalter der Digitalisierung sind es relevant Inhalte, die auf Bildschirmen an den Nutzer ausgespielt werden. Im Gegenzug stellen die Nutzer ihre Daten zur Verfügung und akzeptieren Werbeunterbrechungen. Im Zeitalter der Physikalisierung werden Usern nützliche Dinge und Services im physischen Raum zur Verfügung gestellt als Gegenleistung für Daten und Werbung. So entwickelte Pernot Ricard mit seiner „Project Gutenberg“ Initiative eine Art smartes Bücherregal für Spirituosen. Verschiedene Pernot Ricard Sorten sind in aneinandergereihte Behälter abgefüllt, die an Bücher erinnern und die mit Sensoren ausgestattet sind. Über das System können automatisch Produkte nachbestellt, Cocktail Rezepte vorgeschlagen und -natürlich- personalisierte Angebote gemacht werden. Die Kosmetikprodukte des Tech Start Ups Feeligreen wurden von vorn herein aus einer IoT Denkweise entwickelt. Mittels technischer Anwendungen wie LED Licht in Kombination mit der richtigen Gesichtscreme werden Falten bekämpft. Das Unternehmen sammelt Nutzerdaten und gibt auf deren Basis personalisierte Kosmetiktipps. Zugleich werden die Daten an Kosmetik Hersteller weiter gegeben, welche diese für die Nutzer Forschung und zur Anpassung von Marketing Strategien verwenden.

Auf den Anbruch des Zeitalters der Physikalisierung weist auch das absehbare „Ende des Moorschen Gesetzes“ hin. Die Leistung der Endgeräte wächst bereits heute nur noch in geringerem Maße. Die eigentliche Rechenarbeit wird zunehmend in den Rechenzentren der Cloud verschwinden. Statt Technologie und Geschwindigkeit wird in Zukunft der Erlebniswert für den Menschen im Mittelpunkt stehen. Shekar Borkar, Head of Advanced Microprocessor Research bei Intel, ist der Meinung, dass sich in Zukunft nicht die Transistoren pro Chip, sondern der Mehrwert für den Kunden alle zwei Jahre verdoppeln wird. Der Entwicklungsprozess wird sich in Zukunft also umkehren. Die Frage wird sein: Welche Anwendungen und Geräte möchten die Menschen haben und wie kann man einen Chip herstellen, der diese Bedürfnisse befriedigt?

Der chinesische Hardware Hacker Andrew Huang glaubt, dass das „Ende des Moorschen Gesetzes“ der Maker Kultur zum Durchbruch verhelfen wird. Es wird entweder darauf ankommen, dass ein Gerät gut aussieht, nutzerfreundlich ist, oder dass es ein günstiges Preis-Leistungsverhältnis bietet. Es wird einerseits eine Handwerkskultur geben, welche auf schönes Design und hochwertige Verarbeitung achtet. Laptops werden dann als kunstfertigen Erbstücken behandelt, wie heute eine Schweizer Uhr.

Andererseits werden kleine Geschäfte profitieren, die günstige open Hardware herstellen. Einen Vorgeschmack, wie diese Maker Zukunft aussehen kann, zeigt das chinesische Produktpiraterie-Phänomen „Shenzhai“. Es handelt sich dabei um kleine Familienunternehmen, welche günstige, oder gebrauchte Komponenten massenweise zu neuen Geräten recyceln. Die Familien geben technische Baupläne kostenfrei untereinander weiter. Tablets, Drohnen, Bio-Tech Produkte und Open Source Hardware werden von ihnen per Kilo Preis angeboten. Die Financial Times schätzten im Jahr 2010, dass es sich bei 20 Prozent des weltweiten 2G Handy Marktes um Shenzhai Produkte handelt.

Wenn digitale Geräte so inflationär verbreitet und allgegenwärtig sind, wird sich der Fokus des Innovationsprozesses weg von der Technologie hin zum subjektiven Erlebnis des Nutzers richten.

Phil Libin ist Mitbegründer der führenden Notiz-Software Firma Evernote. Er sieht die eigentliche Zeitenwende für sein Unternehmen in der Einführung einer Apple Watch App. In Zukunft seinen Menschen von einem „digitalen Kraftfeld der Intelligenz“ umgeben. Evernote wird auf dem Desktop Computer durchschnittlich 40 Minuten genutzt, auf dem Smart Phone sind es nur noch 5 Minuten, auf der Smart Watch dagegen nur noch 5 Sekunden. Allerdings blickt man auf das Smart Phone ca. 20 mal am Tag und auf die Uhr ca. 200 mal. Das verlangt einen profunden Wandel hin zu einem nutzerzentrierten Design Prozess. Statt mit einer Feature Liste beginnt man mit der Frage: Was kann ein Mensch in 5 Sekunden machen, was in 5 Minuten? Statt sich also mit einer bildschirmbasierten Software auseinanderzusetzen, muss sich das Entwicklungsteam in Zukunft mit dem subjektiven Nutzererlebnis in der physischen Realität auseinandersetzen.

Es wird häufig über die Probleme der Digitalisierung gesprochen, mit denen die traditionelle Wirtschaft zu kämpfen hat: verkrustete, hierarchische Strukturen, langsame Innovationszyklen und das Beharrungsvermögen analoger Denkmuster. Der Prozess der Physikalisierung scheint für digitale Konzerne kaum weniger riskant zu sein. Google, Apple und Facebook haben in der virtuellen Realität begonnen und sehen den nächsten Schritt in einer physikalischen Entsprechung. Sie tun dies oft durch Zukäufe von Unternehmen, die in der physischen Realität Erfahrungen gesammelt haben. Das Kräfteverhältnis steht hier deutlich zugunsten dieser digitalen Elefanten. Apple könnte mit seinen Geldreserven theoretisch die gesamte deutsche Automobilindustrie schlucken. Es wundert daher nicht, dass die deutschen Hersteller Angst davor haben, bald zu einer Art Foxconn für Fahrzeuge degradiert zu werden und nur noch Hardware für Apple Autos zu liefern. Die Daten, die Intelligenz, das User Interface und der Kontakt zum Kunden würde dann komplett über Apple abgewickelt werden.

Doch wie schwierig sich Physikalisierung gestaltet zeigt das Beispiel Google. Der Konzern kaufte im Jahr 2014 den Smart Home Device Hersteller Nest. Dieser hat aber seither kein einziges erfolgreiches Produkt auf den Markt gebracht. Ähnlich sieht es mit dem Laufroboter Unternehmen Boston Dynamics aus, das Google ebenfalls 2014 erwarb. Nun möchte die Google Holding Alphabet auch dieses Unternehmen wegen Erfolglosigkeit wieder abstoßen und sich wieder stärker auf seine Kernkompetenzen konzentrieren. Auch der erfolgsverwöhnte Elektroauto Hersteller Tesla hat mit massiven Qualitätsproblemen zu kämpfen. Das Silicon Valley Start Up von Alan Musk möchte einen Elektro SUV auf den Markt bringen. Das Auslieferungsdatum wurde wegen technischen Problemen bereits mehrfach verschoben. Deswegen hatte Tesla das österreichische Unternehmen Hoerbiger verklagt. Der 90 Jahre alte Weltmarktführer für Ventiltechnologie soll angeblich nicht dazu in der Lage gewesen sein, eine Flügeltürtechnologie zu entwickeln

Wer am Ende das Zeitalter der Physikalisierung dominieren wird, ist bis jetzt noch offen. Womöglich wird ein gänzlich neuer Typus von Unternehmen entstehen, welcher von Physical Internet Natives geschaffen wird.